Ritzen, schneiden, schlagen. Selbstverletzendes Verhalten.

Oh – fuck! Eine klaffende Wunde stiert sie an. Gelbes Fettgewebe ist zu sehen, ein dicker Strahl Blut sickert in die Bettdecke. Gleich wird ihr schlecht. Was, wenn ich nun verblute? Und warum um Himmels Willen tut das nicht weh?!? Panisch wählt sie die Nummer eines Freundes und kreischt in den Hörer:
“Du musst kommen, komm! Ich – ich hab mich geschnitten. Tief. Ich hab Angst!!!! Wir müssen ins Krankenhaus. Bitte beeil dich. Bitte!“
Mit bebender Stimme redet er auf sie ein: „In 10 Minuten bin ich bei dir. Mach keinen Blödsinn! Also nicht NOCH MEHR davon. Beruhig dich – das wird schon. Bis gleich.“
Tüütttt. Aufgelegt. Mit vor Schreck geweiteten Augen deckt sie die Wunde an ihrem Arm zu, zieht einen Langarmpullover über, atmet dreimal tief durch und kauert sich in die Ecke des Zimmers.
Wenig später klingelt es stürmisch an der Tür. Ihr Freund ist da. Endlich. Blass steht er vor ihr. Stillschweigend fahren sie mit dem Lift nach unten. Das leise Surren der Aufzugsseile geht durch Mark und Bein und lässt sie erschaudern. Im Wagen bricht er endlich sein Schweigen:
„Warum? Was war denn los?“
Betreten blickt sie zu Boden
„Ich… bin so ein schlechter…. schlechter… Mensch, ich HASSE mich… bin ein Idiot. Und jetzt – jetzt werden sie mich einweisen. Es tut mir… soooo leid. Entschuldige… ich wollte das nicht. Das war… ein Versehen! Alles… einfach alles… mache ich falsch. Scheiße! Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir… so… leid.“ Verzweifelt schluchzt sie in ihre Hände. Ihr ganzer Körper bebt. Ihre Welt versinkt hinter einem Tränenschleier. Sie wollte sich bestrafen. Weil sie ein dummer, schwacher Mensch ist. Aber irgendwie klingt das jetzt nicht mehr so logisch wie noch vor wenigen Minuten.

Im Krankenhaus angekommen:
„Was fehlt Ihnen denn?“ fragt die dickliche Schwester bei der Anmeldung.
„Ich habe mich geschnitten. In die Hand.“
„Links oder rechts?“
„Der rechte Unterarm ist es.“
„Na dann nehmen Sie bitte vor Zimmer 3 Platz.“
Aha – haben die hier etwa eine Aufteilung nach linker und rechter Körperhälfte?
Ihr Begleiter ist auf Parkplatzsuche und so alleine fühlt sie sich noch unwohler. Unruhig dreht sie zwei Runden und lässt sich schließlich auf einem freien Sessel nieder. Das Wartezimmer ist berstend voll. Eine Mutter mit einem brüllenden Kind, ein älteres Ehepaar, eine Dame im Rollstuhl, die versammelte Mannschaft einer türkischen Familie und ein Schüler im Sporttrikot. Es wird wohl länger dauern bis sie hier an die Reihe kommt.

Wenig später lässt sich ihr Freund auf den Stuhl neben sie gleiten und legt ihr seine Hand sachte auf die Schuler. Erleichtert lächelt sie ihn an.
„Zeig mal her…“ er deutete auf den Arm.
Sie schüttelt den Kopf. Er deutet nochmals auf den Arm. Er will sehen.
Umständlich krempelt sie einen Ärmel hoch und wickelt den improvisierten Verband ab. Wie ein offener Mund grinst sie der Schnitt an.
“Was tust du dir da nur an??” Verlegen dreht er sich weg, schüttelt den Kopf.
„Denkst du die müssen mich nähen? Ich hab Angst“ wimmert sie leise.
Unvermittelt steht er auf und geht in Richtung Behandlungszimmer 3.
„He, bleib da! Was machst du? Nein, nein, komm wieder zurück“ zischt sie ihm nach, als sie sieht, wie er an die Türe des Zimmers klopft. Ohne auf ein ‚Herein’ zu warten, tritt er ein.

Vor Anspannung setzt ihr Herz kurz aus. Erst als er wieder aus dem Raum kommt, schlägt es hastig weiter. Er winkt sie zu sich. Sie winkt ab. Er winkt wieder. Alle sehen sie an. Scheiße ist das peinlich!
Etwas verkrampft geht sie zur Türe, blickt unsicher zu ihrem Freund.
Was, wenn die sie nun schief ansehen oder genäht werden muss?

Ein Arzt empfängt sie und geleitet sie zu Kabine eins im Behandlungsraum drei auf Notfallstation zwei.
„So, nun zeigen Sie mir mal Ihren Arm“ bittet der Arzt als sie hölzern auf einem Stuhl Platz genommen hat.
Zögerlich schlüpft sie aus dem Pullover und streift den Verband ab.
„Na, da haben wir ja ordentlich geschnitten. Borderlinerin?“ fragend hebt er eine Augenbraue.
Sie nickt.
„In Therapie?“
Wieder ein Nicken.
„Wo?“
Sie nennt ihm Namen und Adresse einer Therapeutin.
„Müssen wir nähen“ meint er sachlich.
Blitzschnell zieht sie die Hand zurück und schüttelt heftig den Kopf. Ihre Haare peitschen um ihren Kopf und lassen sie noch wirrer aussehen.
„Nicht nähen?“ erstaunt tritt er einen Schritt näher heran.
„Nein, bitte nicht. Geht das nicht zu Kleben?“
Der Arzt streift seinen Mundschutz ab: „Naja, gut, dann kleben wir das Ding eben.“
Erleichtert lässt sie sich gegen die Sessellehne sinken.
”Angst?“ Ein Lächeln umspielt seinen Mund.
Scheiße. Und wie!!!
Schüchtern nickt sie.
„Verstehe ich. Aber das Kleben tut gar nicht weh. Versprochen! Die Strips müssen 10 Tage draufbleiben. Zum Verbandswechsel bitte zu Ihrer Hausärztin. Tetanusimpfung besteht noch?“
”Ja, denke schon.“ Sie ist völlig perplex das dieser Arzt trotz ihrer sagenhaften Blödheit so nett ist. Eigentlich hätte sie mit abschätzigen Blicken und Getuschel gerechnet, doch nichts dergleichen passiert hier.
Als der Arzt mit Schere und Klebestrips kommt, drückt sie sich wie ein verängstigtes Tier in die Ecke und streckt ihm den Arm weit entgegen. Mit zugekniffenen Augen wartet sie auf Höllenschmerzen.
„So, fertig. Bitte unbedingt die Strips drauflassen!“ seine Stimme hat einen besorgten Unterton.
Ungläubig starrt sie die Wunde an. Das war’s? Sieben weisse Strips halten die Haut zusammen. Der klaffende Mund ist nur noch ein dünner Strich. Es ist vorbei. Vorerst.
Mal sehen wie lange sie diese unnötigen Strips drauflassen wird…


Nein, diese Story betrifft keine Sexworkerin.
Was ich damit sagen will: in jeder Gesellschaftsschicht gibt es psychische Krankheiten, Gewalt, Drogen, Ängste, Sorgen… aber in keiner Branche wird das so thematisiert wie in unserer.
Oder habt ihr schon mal gehört wie sie eine Verkäuferin nach ihren Lebensumständen zuhause gefragt haben, ob es ihr gut geht, ob sie vielleicht eine Störung hat weil sie Kassiererin ist?
Nein, oder?
Ich auch nicht.
Darum: weg mit dem Stigmata das unser Job scheinbar mit sich bringt.
Es sind Menschen die als Sexworker arbeiten.
Wie in allen anderen Sparten eben auch.
Wieso also geht man gerade bei Prostituierten immer davon aus, dass sie gestört sein müssen???